Das "Ostchinesische Mittelmeer" in der Zeit vom 15. Jh. bis c. 1800.: Eine neue Qualität in der Entwicklung der Handelsbeziehungen seiner Anrainerstaaten

Ostasien, insbesondere China, erlebte in der Zeit vom 15./16. bis zum 19. Jh. einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Bereits seit vielen Jahrhunderten schlug sich Chinas politisch-ökonomischer Erfolg nicht zuletzt in dem Bewußtsein der chinesischen Kaiser in der traditionellen Metapher vom "Reich der Mitte" nieder, mit der sie auch gleichzeitig ihr Verhältnis zu ihren Nachbarvölkern definierten: diese waren Barbaren, die nur von China lernen konnten und aufgefordert waren, die chinesische Oberherrschaft freiwillig als Tributleistende anzuerkennen. Weil und solange der Reichtum ihrer Gesellschaft für ihre Bedürfnisse genügte, waren viele chinesische Kaiser an einem blühenden Außenhandel oft gar nicht weiter interessiert. Mehr als die Versorgung der sozialen und herrschenden Elite mit exotischen Gütern und Luxusartikeln war, wie es schien, von Seiten Chinas offiziell zumindest nicht erwünscht. Auch Japan und Korea schlossen sich zu Beginn des zweiten Drittels des 17. Jhs. weitgehend von der Außenwelt ab. Japans Verbindungen zur Außenwelt schienen sich zwei Jahrhunderte hindurch auf den Handel mit der niederländischen Ostindischen Kompanie zu beschränken. So mag die Vorstellung entstehen, in Ostasien habe es damals nur eine Reihe mehr oder weniger isolierter Staaten gegeben.

Neben dieser offiziellen Außenpolitik entwickelte sich allerdings, weitgehend auf private Initiative hin, ein intensiver wirtschaftlicher und kultureller Austausch, so daß es im damaligen Ostasien schließlich zur Entstehung eines regelrechten Netzwerks von überregionalen und "internationalen" Handelskontakten und Verflechtungen kam. Dessen Anfänge sind bereits in der Song-Zeit (960-1279) zu suchen. Die Zentren des Austausches lagen in China und in Japan. Doch auch kleinere Staaten, Königreiche und Inseln im Norden und Süden des Ostchinesischen Meeres partizipierten an den Handelsbeziehungen im damaligen Ostasien. Die Initiatoren dieses Netzwerkes waren insofern im weitesten Sinne "private" Organisationen und Kaufleute, die auch unter ungünstigen offiziellen Bedingungen darum bemüht waren, ihre Kontakte aufrechtzuerhalten. Zahlreiche, bisher weitgehend unerforschte Aufzeichnungen und Inschriften aus privater Hand sowie jüngste archäologische Funde und Entdeckungen können uns hier zu wichtigen neuen Erkenntnissen verhelfen. Diese sollen im Rahmen des Projektes untersucht werden. Es handelt sich hierbei
  1. um Steininschriften, die über ökonomische (Geschäfts)Tätigkeiten, Absichtserklärungen und Kooperationen von Händlern und Produzenten, über Besitzverhältnisse, Finanzierungsweisen (Kredite), gegenseitige Verträge, Beschwerden seitens der Bevölkerung etc. berichten (verfaßt von verschiedenen Interessensvertretungen der Händler und Produzenten, zum Teil auch von Beamten);
  2. um private Aufzeichnungen, Briefe, Manuskripte, Warenlisten meist aus der Hand von Kaufleuten;
  3. um Lokalmonographien und behördliche Aufzeichnungen und Regelungen;
  4. um archäologische Entdeckungen, vor allem Keramik, Münzen und Metalle, aber auch Tempelinschriften;

Der Terminus "Ostchinesisches Mittelmeer" wurde in Anlehnung an Fernand Braudels Vorstellung, zwischen den Anrainerstaaten des europäischen Mittelmeeres habe ein reger interkultureller und wirtschaftlicher Austausch bestanden und die betreffenden Staaten hätten mehr Faktoren geeint als unterschieden, ausgewählt. Die neue Qualität – das die Hypothese, die sich bei der Durchsicht von bisher nur peripher bearbeiteten Quellen ergeben hat – besteht darin, daß im Unterschied zu den vorangegangenen Dynastien[1] trotz offizieller Handelsverbote und scheinbarer Isolation der wichtigsten Staaten in Ostasien (China, Japan und Korea) von privaten Kaufleuten und Organisationen sowie sogar von suboffiziellen Stellen eine rege – "illegale" – überregionale Geschäftstätigkeit weitergeführt und ausgebaut wurde. Diese wirkte sich natürlich auch auf die Ökonomie der beteiligten Staaten selbst und ihre Beziehungen untereinander aus. Manchmal sprachen sich trotz einer offiziellen handelsfeindlichen Politik sogar suboffizielle Regierungsbehörden für den privaten Handel aus. Das deuten die zu untersuchenden Quellen an, die zum Teil umfangreiche und detaillierte Informationen zu dieser neuen Qualität der Handelsbeziehungen und der regionalen Produktion von Exportwaren enthalten.

Wichtig für das Verständnis dieser neuen Qualität ist die Tatsache, daß China mit seinen Produkten und Kaufleuten zweifellos auch damals das Zentrum des maritimen Handels in Ostasien darstellte und daher von den Entwicklungen in China der entscheidende Impuls ausging.

Bereits seit dem 12. Jh. haben wir es vor allem in China mit einem regen Binnen- und Außenhandel zu tun, der von privaten Kaufleuten durchgeführt wurde und an dem der Staat finanziell partizipierte. Die positive Bezugnahme des Staates auf den maritimen Außenhandel basierte im wesentlichen auf wirtschaftlichen Interessen – er wollte sich in Form von abstrakten Geldgrößen am Handel bereichern – was für die damalige Zeit noch keineswegs selbstverständlich war. In Japan setzte dieser Prozeß erst 2-3 Jh. später ein, in Korea, allgemein gesprochen, erst im 17. Jh.

Was nun die Außenpolitik Chinas in der Zeit vom 14.- Mitte des 17. Jhs. (Ming) betrifft, so besaß diese mit wenigen Ausnahmen isolationistische Züge.[2] Wichtiger Bestandteil dieser Außenpolitik war bis Mitte des 16. Jhs. die sogenannte "Seeverbotspolitik". Damit wollte man jeglichen privaten, nicht im Rahmen der offiziellen Tributbeziehungen stattfindenden Verkehr mit anderen Ländern unterbinden. Ausgangspunkt dieser außenhandelsfeindlichen Politik waren vor allem militärisch-politische, nicht wirtschaftliche Erwägungen. Hier sind vor allem die Vorstöße der Mongolen und der Seepiraten zu nennen, später kamen die Europäer hinzu. Ferner befürchtete die Regierung eine Verallgemeinerung von Kaufmannsinteressen, die letztlich in einen Gegensatz zu staatlichen Interessen umschlagen und dem Staat auch politisch gefährlich werden könnte. Wirtschaftlich fühlte sich das Ming-Reich durch seine Staatswirtschaft ohnehin vollkommen autark.

Allerdings war die bis dahin gediehene Entwicklung der Warenwirtschaft nicht mehr so ohne weiteres wieder rückgängig zu machen. Die Kaufleute, zunehmend aber auch lokale Behörden und Beamte, waren mit dieser Zentralpolitik nämlich gar nicht einverstanden und versuchten, ungeachtet der Verbote, ihre Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Solange die chinesische Regierung selbst noch eine schlagkräftige, taugliche Hochseeflotte besaß, ungefähr bis zur Hälfte des 15. Jhs., war die staatliche "Seeverbotspolitik" noch relativ erfolgreich. Es ist insofern nicht verwunderlich, daß die ersten chinesischen Inschriften in die Zeit des 15. Jhs. datieren. Denn, nachdem der Staat auch das Interesse an seiner Hochseeflotte verloren hatte – offensichtlich war man zu der Auffassung gelangt, eine strikte Abriegelung vom Ausland würde genügen, um unerwünschte "Gäste" fernzuhalten und unliebsame Interessen zu unterdrücken - wagten sich wieder zunehmend mehr chinesische Kaufleute aufs Meer. Sie unterhielten mit Kaufleuten aus anderen Ländern und Regionen ein das Ostchinesische Meer überspannendes Handelsnetzwerk. Nicht selten kooperierten sie mit Piraten oder mit Überseechinesen, die sich im Laufe der Jahrhunderte zuvor in anderen Regionen Ost- und Südostasiens niedergelassen hatten.[3]

Mitte des 17. Jhs. löste in China die Qing-Dynastie der Mandschuren die Ming-Dynastie ab. Die Mandschuren führten diese Seeverbotspolitik zunächst fort, ebenfalls aus politisch-militärischen Gründen. Nach langen Kämpfen im Küstenraum Ostchinas setzte sich zu Beginn der 60er Jahre des 17. Jhs. ein mächtiger chinesischer Piraten-Kaufmann nach Taiwan ab, i.e. an einen Ort, an dem die Holländer im Jahre 1602 eine Niederlassung ihrer "Vereinigten Ostindischen Kompanie" (VOC) gegründet hatten. Er war militärisch so gut ausgerüstet, daß die Holländer im Jahr 1662 kapitulierten und sich von Taiwan zurückzogen. Die chinesische Regierung konnte wieder einmal sehen, wie gefährlich ihr mächtige, eigenständige Kaufmannsinteressen werden konnten. Sie lockerte daher ihre Seeverbotspolitk erst 1684, nachdem es ihr im Sommer 1683 gelungen war, Taiwan zu erobern. In den folgenden Jahren ordnete sie ihre Außenbeziehungen neu, wobei jedoch offiziell im Verhältnis zu den kleineren Staaten in Ostasien das Tributsystem fortgeführt wurde. Zu Beginn des zweiten Drittels des 17. Jhs. schlossen sich nun aber Japan und Korea weitgehend von der Außenwelt ab – ausgerechnet zu einer Zeit, als der Handel von Chinas Seite wieder allmählich liberalisiert wurde und auch wirtschaftlich wieder zunehmend in den Gesichtskreis der Regierung geriet. Zu Japan bestanden zwischen 1606 und 1867 offiziell gar keine Handelsbeziehungen. Korea war bereits in den Jahren 1627-36 von den chinesischen Mandschuren besetzt worden und brach bald darauf selbst seine Beziehungen offiziell zum Ausland ab.[4] Dennoch stieg seit Mitte des 17. Jhs. das Ausmaß des Handels mit China und Japan stetig. Man sieht, daß sich auch die Regierungen oftmals gar nicht so einig darüber waren, wie sie denn nun mit den Kaufmannsinteressen umgehen sollten. Umso wichtiger ist es, durch neue und unterschiedliche Quellenmaterialien aus allen beteiligten Anrainerstaaten mehr über die überregionale Verflechtung innerhalb Ostasiens zu erfahren.





[1] Das heißt, im Unterschied zu den vorangegangenen Dynastien (insbesondere Song und Yuan) wurde der Außenhandel nicht mehr offiziell gefördert, und der Ausbau des Außenhandels lag nicht mehr im unmittelbaren Interesse des Staates.
[2] Einmal abgesehen von der Zeit des frühen 15. Jhs., während der die großen Expeditionen des Eunuchen Zheng He zur See stattfanden und gewissen Liberalisierungsbestrebungen um die Mitte des 16. Jhs.
[3] Auch die Holländer waren von Anbeginn auf die Zusammenarbeit mit chinesischen Piraten-Kaufleuten angewiesen (Zheng Zhilong).
[4] Seine Öffnung wurde erst im Jahr 1876 durch Japan erzwungen (Kanghwa-Vertrag).